Rainer Schwing feiert seinen 70. Geburtstag - ein guter Zeitpunkt für eine Würdigung.
Er prägte und prägt die systemische Beratung und Therapie weniger durch zahlreiche Publikationen als durch praxisnahe Lehre. Zugleich schrieb er – gemeinsam mit Andreas Fryszer – eines der meistgelesenen Lehrbücher: "Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis".
Über mehr als drei Jahrzehnte hat er auf diese Weise Menschen in allen psychosozialen Arbeitsfeldern praktische Werkzeuge für systemisches Arbeiten vermittelt.
Lehre als ein Leben für (die) Praxis
1989 gründeten Winiger Beuse, Erika Lützner-Lay, Artur Goerke-Hengst und Rainer Schwing praxis - institut für systemische beratung.
Das kleine Gründungsteam wollte systemische Ansätze über die Therapie hinaus in andere Berufsfelder tragen. Daraus entstanden zwei Institute: Das Institut Nord (Hannover und Dortmund), heute unter der Leitung von Philip Beuse und das Institut Süd unter Rainer Schwing mit Standorten in Hanau, Fürth, Mainz und Erfurt. praxis gehört heute zu den ältesten und größten systemischen Instituten Deutschlands.
Das aktuelle Angebot umfasst zahlreiche DGSF-zertifizierte Weiterbildungen, Fachtage mit Expert:innen verschiedener Disziplinen, Fortbildungsworkshops, Vorträge und – schon vor Corona etabliert – digitale Lernformate.
Kernstück bleibt die zweijährige Weiterbildung "Systemisches Arbeiten in Sozialarbeit, Pädagogik, Beratung und Therapie". Der Titel verdeutlicht: Es handelt sich nicht um eine klassische Beratungsweiterbildung, sondern um eine breite Basisqualifikation für alle psychosozialen Arbeitsfelder. Diesem Konzept ist Rainer Schwing über 35 Jahre und durch alle Veränderungen der systemischen Landschaft bis heute treu geblieben.
Frühzeitig entwickelte er auch ein kompaktes neuntägiges Kursformat für Menschen mit begrenzten Zeit- oder Finanzressourcen. Anfangs erntete er dafür Kritik von Kolleg*innen, die meinten, ein solches Format könne keine "echten" Systemiker:innen hervorbringen. Doch der Kompaktkurs eröffnet vielen einen ersten Zugang zur systemischen Perspektive. Sie haben nicht gleich das ganze Handwerk gelernt, aber einen ersten Werkzeugkoffer bekommen. Und nicht wenige schließen später die zweijährige Weiterbildung an.
Von Beginn bot Rainer Schwing zusätzlich Inhouse-Schulungen für Träger sozialer Arbeit an. Für ihn sind interne Weiterbildungen ein wirksamer Hebel, um fachliche Grundlagen und praktisches Handeln einer Organisation umfassend zu verändern – „systemische Organisationsentwicklung" im besten Sinne.
Im Rhein-Main-Gebiet findet man heute kaum einen bedeutenden Träger der Jugendhilfe oder sozialen Arbeit ohne Mitarbeiter:innen mit systemischer Qualifikation von praxis. Die genaue Zahl derer, die Rainer Schwing persönlich in systemische Perspektiven einführte, ist nicht dokumentiert. Mit Weiterbildungen, Workshops und Vorträgen erreichte er sicher eine Menschenmenge, die ein mittelgroßes Stadion füllen würde.
Überregionale Bekanntheit erlangte Rainer Schwing vor allem durch das Buch „Systemisches Handwerk, Werkzeug für die Praxis". Es zählt heute zu den Standardwerken systemischer Literatur und wurde ins Englische und Chinesische übersetzt.
Die chinesische Übersetzung entstand im Kontext systemischer Kurse deutscher Lehrender in China. Rainer Schwing, Petra Girolstein und andere Lehrenden reisten mehrfach dorthin, verbreiteten systemische Ansätze und ließen sich umgekehrt von den Perspektiven ihrer chinesischen Kolleg:innen inspirieren.
Lehre als Ausdruck der Persönlichkeit
Rainer Schwing ist ein großer Geschichtenerzähler und begeisterter Spielender. Seine Lehre ist narrativ und lebendig. Anders als andere Größen der systemischen Szene publizierte er vergleichsweise wenig. Doch seine Teilnehmer:innen erinnern sich lebhaft an seine Geschichten, Beispiele, Übungen und Spiele. Durch sie macht er systemische Konzepte greifbar und verwandelt theoretische Konstrukte in alltagstaugliche Werkzeuge.
Als Gastgeber schuf er gemeinsam mit seiner früh an Krebs verstorbenen Frau Eugenia eine offene, herzliche Institutskultur. Diese Atmosphäre trug das Institut auch, als beide offen mit Eugenias Erkrankung umgingen und ihre Energie auf den Kampf gegen den Krebs konzentrieren mussten. Weiterbildungsmanagement, Referent:innen und Supervisor:innen führen diese Kultur fort. Das Prinzip, das Lernen einladende Räume braucht, bleibt lebendig – auch jetzt, da Rainer Schwing sich langsam aus der aktiven Institutsleitung zurückzieht.
In der Kultur und der Lehre des Instituts spiegeln sich die Persönlichkeit und das Menschenbild von Rainer Schwing. Freund*innen und Kolleg*innen beschreiben ihn als einen zugewandten und warmherzigen Menschen, der anderen Menschen, Perspektiven und unbekannten Themen mit Neugier, Offenheit und Akzeptanz begegnet.
In einem seiner – für viele Lehrende im Institut richtungweisenden – Buchbeiträge finden sich in dem Titel „Liebe, Neugier, Spiel“ diese Charakterzüge von Rainer Schwing wieder. In den systemisch-neurobiologischen Betrachtungen beschreibt er, wie er systemische Therapie als Anregung und Unterstützung von Selbstorganisationsprozessen im individuellen und sozialen System versteht. Er ist überzeugt, dass wir nachhaltiger arbeiten, schneller und langfristiger helfen, „wenn wir die Kontexte und sozialen Systeme der Klienten in die Veränderungsarbeit einbeziehen, wenn wir vielfältige Ansatzpunkte für produktive Veränderungsimpulse nutzen. (…), wenn wir bei unseren Klienten positive Gefühle aktivieren und sie zu Handlung und Aktivität einladen. Neue Lösungen werden dann besonders leicht entstehen, wenn dabei Liebe, Neugier und Spiel im Spiel sind.“ (Schwing, Rainer: Liebe, Neugier, Spiel – Wie kommt das Neue in die Welt? In: Bonney, Helmut (Hrsg.): Neurobiologie für den therapeutischen Alltag. Stuttgart: Schattauer 2011, S. 35f.)
Seine Konzepte von systemischer Beratung und Therapie, seine Erfahrungen und seine Ideen einer guten systemischen Lehre gibt Rainer Schwing seit vielen Jahren – gemeinsam mit Reinert Hanswille vom ifs Essen – weiter an zukünftige Lehrende in der Weiterbildung „Systemisch Lehren“. Es ist eines der wenigen Angebote innerhalb der DGSF, in der Lehrende in einer Weiterbildung systematisch Grundkompetenzen für die Lehre vermittelt bekommen.
Lehre als Netzwerkarbeit
Rainer Schwing hat sich seit der Gründung in der DGSF engagiert. Ab 2003 war er Mitglied im Fort- und Weiterbildungsausschuss, von 2006 bis 2011 war er Mitglied im Vorstand der DGSF. Seit 2011 ist er einer der Sprecher der Fachgruppe "Neurobiologie und systemische Praxis" bzw. mittlerweile "Synergetik, Neurowissenschaften und systemische Praxis". Von 2016 bis 2022 war er Mitglied der Findungs- und Wahlkommission des Dachverbandes.
Mit diesem Engagement hat er zu einer erfolgreichen Entwicklung der DGSF und insbesondere der Qualität von Weiterbildungen und Weiterbildungsinstituten im Dachverband beigetragen.
Eine bleibende Idee aus seiner Vorstandszeit sind die DGSF-Fachtage, die jährlich von zahlreichen Instituten des Verbandes angeboten werden und systemische Ansätze einem breiteren Publikum erschließen.
Sowohl im Verband als auch im Institut verfolgt Rainer Schwing einen internationalen und interdisziplinären Ansatz. Die Verbindung verschiedener Fachrichtungen betrachtet er als Kernprinzip systemischer Arbeit. In den Weiterbildungen des Institutes finden sich tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, psychodramatische, gruppendynamische und andere Konzepte. Er entdeckte frühzeitig Marte Meo, Traumatherapie und Mentalisieren für die systemische Praxis. Er hat sich in Vorträgen, Fachtagen und Fachartikeln dafür stark gemacht, neurobiologische und systemische Konzepte miteinander zu verbinden. Er interessiert sich ebenso für die Synergetik und die Netzwerkarbeit wie für das Mikrobiom oder systemische Bodenkunde. Oder er fragt sich aus systemischer Perspektive – und gemeinsam mit entsprechenden Expert:innen – wie man mit „Rechten reden“ kann.
Lehre(n) aus der Biografie
Seit über 20 Jahren kenne ich Rainer Schwing – erst als Teilnehmer seiner Weiterbildung, später als Lehrender in seinem Institut und nun seit fünf Jahren als Mit-Institutsleiter. In dieser Zeit habe ich Hypothesen zu den prägenden Einflüssen seiner Entwicklung gesammelt.
Unsere schwäbischen Wurzeln verbinden uns – ich stamme aus Stuttgart, er aus Tuttlingen, dem selbsternannten „Weltzentrum der Medizintechnik". Vielleicht ein frühes Zeichen für seine Verbindung zu hochwertigem Handwerk.
Sein Vater arbeitete als Handelsvertreter für Bäckereien. Auch dies prägte vielleicht sein Verständnis sowohl für Qualitätsarbeit als auch für Kundenorientierung.
Ein weiteres Bindeglied ist unser Engagement in der kirchlichen Jugendarbeit – er in evangelischen, ich in katholischen Kontexten. Aus der Jugendarbeit haben wir beide die Freude am Spielen mitgebracht. Insbesondere lernten wir dort jedoch die Wirksamkeit von Freiwilligkeit, Partizipation, Werteorientierung, Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit für persönliche Entwicklung. Die Prinzipien dieser Jugendarbeit finden sich vielfältig in den Curricula und der im Institut vermittelten Grundhaltung, die systemisches Arbeiten möglich macht. Besonders teilen wir die Überzeugung, dass wirksame Veränderung häufiger im Alltag als in Beratungszimmern geschieht.
Der schwäbische Liberalismus hat ihn eventuell ebenfalls geprägt – zumindest erkenne ich manchmal diese Denkweise in seinem Handeln. Diese spezifisch württembergische Tradition strebt neben wirtschaftlichen Freiräumen nach Balance zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung. Dies spiegelt sich im Erfolgsrezept von praxis: Seit 35 Jahren wirtschaftlich erfolgreich, wird bei praxis immer nach Lösungen gesucht für die individuelle finanzielle Lage und persönlichen Herausforderungen der Teilnehmenden, um die Teilnahme an einer Weiterbildung zu ermöglichen.
Seinen Horizont erweiterte ein Schüleraustausch in den USA. Von dort brachte er das „Storytelling" mit – lange bevor es hierzulande populär wurde. Er begriff die Bedeutung professionellen Marketings für wirtschaftlichen Erfolg. Vermutlich fand er dort auch Zugang zum Pragmatismus: Als „wahr" gilt, was sich in der Anwendung bewährt; „Realität" entsteht durch Handeln und Erfahrung; Theorien werden an ihren praktischen Ergebnissen gemessen. Für mich verkörpert der Name "praxis" für sein Institut genau diesen Ansatz.
Das Psychologiestudium in Marburg verankerte diese Einflüsse in der sozialen Realität. An dieser „linken Hochburg" der alten Bundesrepublik schloss er 1980 sein Diplom mit einer Arbeit zur Zielorientierung in der Kindertherapie ab. Die Zeit in Marburg hatte sicher Einfluss auf seine Entscheidung, als approbierter Psychotherapeut nicht primär im Therapiezimmer zu wirken, sondern offene Settings wie Jugendräume zu bevorzugen und Menschen aus unterschiedlichsten psychosozialen Arbeitsfeldern zu unterstützen.
Lehre als Innovation
Diese biografischen Einflüsse spiegeln sich im Leitbild von praxis wider, das Rainer mit seinen freiberuflichen Trainer:innen und Supervisor:innen entwickelte. Es enthält Kernaussagen wie: „Wir stärken unsere Teilnehmerinnen für kompetentes, zielorientiertes Handeln in komplexen Situationen" und „Wir vermitteln effektive Methoden, die langes, engagiertes Berufswirken ermöglichen." Letzteres charakterisiert auch Rainer Schwings eigenen Berufsweg.
Auch nach 35 Jahren treibt er die Entwicklung seines Instituts kontinuierlich voran. Er schuf dafür solide Strukturen: ein Netzwerk von etwa hundert freiberuflichen Trainer:innen und Supervisor:innen, Koordinator:innen für verschiedene Standorte und Themenbereiche, professionelles Weiterbildungsmanagement und die Einbindung von Studierenden und Praktikant:innen. Aus einem Praktikum heraus entstand die Position eines Bildungsreferenten für Online-Angebote im Institut. Vorausschauend initiierte er auch rechtzeitig die Partnersuche für die Institutsleitung.
praxis hat schon vor der Corona-Pandemie digitale Lernangebote entwickelt und seitdem kontinuierlich ausgebaut. Dass wir dabei nicht immer die einfachste verfügbare - das heißt in der Regel amerikanische - Plattform gewählt haben, sondern darauf bestehen, wo immer es möglich ist, mit Dienstleistern zu arbeiten, die Steuern zahlen und Daten schützen, hat nicht wenige unserer Teilnehmenden geärgert. Es passt aber zur Philosophie des Instituts, das Rainer aufgebaut hat.
Wenn sich nun mit der sogenannten „Künstlichen Intelligenz" Lehre und Lernen erneut grundlegend verändern werden, wird das Institut in der Lage sein, auch dies in die Lehre und Curricula zu integrieren.
Lehre als – noch lange nicht abgeschlossenes – Lebenswerk
Lieber Rainer,
im handwerklichen Sinne bist Du ein „Meister deines Fachs". In der systemischen Welt hast Du die Lehre geprägt wie wenige andere.
Deine Art, systemisches Arbeiten zu vermitteln, wirkt durch eine beeindruckende Zahl von Absolvent:innen weiter. Du erzählst weiter Geschichten. Du wirst weiter als Lehrender für die Grundlagen des systemischen Arbeitens aktiv sein, weil Dir diese Weiterbildung besonders am Herzen liegt.
Wir sind gespannt auf weitere Texte, Vorträge und Projekte von Dir. Wir wünschen Dir viel Erfolg für Deine neuen Beratungs- und Therapiepraxis in Fürth.
Du hast keine Anhängerschaft, sondern befähigst Menschen, selbstständige Praktiker:innen, Lehrende oder – wie in meinem Fall – Institutsleiter zu werden. Du umgibst Dich nicht mit Schüler:innen, sondern hat ein riesiges Netzwerk von Kolleg:innen aufgebaut. Du hast unzählige Menschen für systemisches Handwerk begeistert.
Herzlichen Glückwunsch zum 70. Geburtstag, Rainer! Herzlichen Dank für Dein Wirken und für 20 Jahre gemeinsamen Weg.
Das systemische Feld in Deutschland wuchs mit Dir und wird durch Deine Impulse weiterwachsen.
Die Geschichte geht weiter – und wir gestalten sie gemeinsam.
Peter Martin Thomas – stellvertretend für alle Wegbegleiter*innen
Im systemmagazin ist auch ein Auszug aus der Würdigung für Rainer Schwing erschienen:
https://systemagazin.com/rainer-schwing-wird-70/