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Der Sturm
Steht ein Rosenstrauch in deinem Garten
und er ist noch gar nicht grün.
Und du kannst es kaum erwarten,
dass die erste Knospe komme, zart und dünn,
und dass sie verkünde neues Leben.
Wartest, wartest voller Angst und Beben,
bis ein Morgen kommt – und sie ist da.
Und sie ist so fein und schlank und hell,
ganz geschlossen noch und kaum gesehn
und du möchtest, dass sie aufbricht, ganz, ganz schnell,
da du weißt, wie rasch die Zarten untergehn.
Doch es enteilt ein Tag und es enteilt ein zweiter
und die Himmel werden blauer, werden weiter
und die Knospe bricht nicht auf.
Und du weißt: wenn jetzt ein Frost kommt, stirbt sie,
stirbt und hat das Leben nicht gelebt.
Möchtest gerne helfen und weißt doch nicht wie,
fürchtest sehr, dass nicht ein Wind sich hebt,
der sie dir vom Stamme bricht –
in der Nacht, du schläfst und siehst es nicht,
und sie ist bei Tag schon tot.
Kommt dann eine Nacht, und Stürme brausen um dein Haus,
um dein Haus, mit den verschlossnen Toren.
Und du bäumst dich auf und willst und willst hinaus
und dir klingt's wie Wimmern in den Ohren.
Endlich bist du draußen – und du siehst den Rosenstrauch dir an –
Sieh – es ist die Knospe aufgebrochen.
Was die Sonne nicht vermocht' in langen Wochen,
hat ein einz'ger Sturm getan.
Selma Meerbaum-Eisinger
Es ist ganz stille
Es ist ganz stille. Aufrecht steht der Duft
vergangner Farben in den welken Wegen.
Die Himmel halten einen langen Regen
die Blätter gehn auf Stufen durch die Luft
Rainer Maria Rilke
Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und
nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und
weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist.
Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt,
ohne eigenen Schaden weiter.
Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und
habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott.
Die Schale ahmt die Quelle nach.
Erst wenn sie mit Wasser
gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See.
Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann
ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt
überzuströmen, nicht auszuströmen.
Ich möchte nicht reich werden,
wenn du dabei leer wirst.
Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst,
wem bist du dann gut?
Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle;
Wenn nicht, schone dich.
Bernhard von Clairvaux
Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und deshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu geben hat, als auf die großen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Äußerungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen ist.
...namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur durch dieses Wohlwollen.
Die Gutmütigkeit, die Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Äußerungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie gering zu schätzen.
Die Summe dieser Dosen ist trotzdem gewaltig, ihre gesamte Kraft gehört zu den stärksten Kräften. Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen: wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten Menschenleben, reich ist, nicht vergisst.
Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches
"Güte in den Worten erzeugt Vertrauen, Güte beim Denken erzeugt Tiefe,
Güte beim Verschenken erzeugt Liebe."
Lao-tse
Wenn du deine Reise nach Ithaka antrittst,
So hoffe, daß der Weg lang sei,
Reich an Entdeckungen und Erlebnissen.
Die Lästrygonen und die Zyklopen,
Den zornigen Poseidon, fürchte sie nicht;
Solche findest du nie auf deinem Weg,
Wenn deine Gedanken erhaben bleiben, wenn erlesene Gefühle
Deinen Geist und deinen Körper beherrschen.
Den Lästrygonen und den Zyklopen,
Dem wilden Poseidon, ihnen wirst du nicht begegnen,
Wenn du sie nicht in deiner Seele trägst,
Wenn deine Seele sie nicht vor dich stellt.
Hoffe, daß der Weg lang sei,
Voll Sommermorgen, wenn du,
Mit welchem Vergnügen, mit welcher Freude,
In bisher unbekannte Häfen einfährst.
Unterbrich deine Fahrt in phönizischen Handelsplätzen,
Und erwirb schöne Waren,
Perlmutt, Korallen, Bernstein und Ebenholz,
Allerlei berauschende Essenzen,
Soviel du vermagst an berauschenden Essenzen.
Besuche viele ägyptische Städte,
Und lerne mehr und mehr von den Gelehrten.
Bewahre stets Ithaka in deinen Gedanken.
Dort anzukommen ist dein Ziel.
Aber beeile dich auf der Reise nicht.
Besser, daß sie lange Jahre dauert,
Daß du als alter Mann erst von der Insel ankerst,
Reich an allem, was du auf diesem Weg erworben hast,
Ohne die Erwartung, daß Ithaka dir Reichtum schenkt.
Ithaka hat dir eine schöne Reise beschert.
Ohne Ithaka wärest du nicht aufgebrochen.
Jetzt hat es dir nichts mehr zu geben.
Und auch wenn du es arm findest, hat Ithaka
Dich nicht enttäuscht. Weise geworden, mit solcher Erfahrung
Begreifst du ja bereits, was Ithakas bedeuten.
Konstantin Kavafis (1863 - 1933)
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke, 6.11.1902
Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.
Urahnherr war der Schönsten hold,
Das spukt so hin und wieder;
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,
Das zuckt wohl durch die Glieder.
Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Komplex zu trennen,
Was ist denn an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?
Johann Wolfgang von Goethe
Der Obstbaum, der kein Obst bringt
Wird unfruchtbar gescholten, wer
Untersucht den Boden?
Der Ast, der zusammenbricht
Wird faul gescholten, aber
Hat nicht Schnee auf ihm gelegen?
Berthold Brecht
April Leg Kürbiskerne in die Erde
viele Sorten – wie Roulette,
damit´s ein neues Sprießen werde
im geschützten Pflanzenbett.
Mai Da explodiert ein grünes Treiben,
voll Saft und Kraft woll´n alle leben
und nicht mehr in der Kiste bleiben!
Werd` ihnen Platz im Garten geben.
Juni Sie treiben voll ihr Eigenleben
und klettern über Zaun und Bäume!
Muss ihnen Halt und Stütze geben.
Sie lachen, nehmen wild ihre Räume.
Juli Da landet einer im Seerosenteich,
küsst kühn die rosa Blüten weich.
Ein anderer rankt die Zeder hinauf,
hört im Himmel nicht zu wachsen auf.
August Die gelben Blüten fangen zitternd den Tau,
laden Schmetterlinge und Hummeln ein.
Nachts nehmen Schnecken den verschwiegenen Bau,
zum Träumen oder für Liebelein.
September Die Früchte – zärtlich anzuschaun –
schwellen nun im dichten Grün.
Wie schwangere Bäuche strecken sie sich
in üppiger Fülle der Herbstsonne hin.
Oktober Sie leuchten gelb, orange und grün
und zeigen lachend ihre Gestalten.
Ob dick, rund, krumm, oval, gestreift androgyn,
sie haben ihr Versprechen im Kern gehalten.
November Sie schmücken das Haus, ein lustiger Chor.
Sie bringen das Lachen vom Sommer herein.
Jeder rollt sich prall leuchtend hervor,
will Augenschmaus und Nahrung sein.
Dezember Holzscheite knistern im Kamin.
Der Kaiser will uns heut` beehren.
Als dickster vom Kürbisclan gibt er sich hin,
wird uns die edelste Mahlzeit bescheren.
Die Kerne versprechen fürs Neue Jahr
das nächste Roulette in der Kürbiskernbar.
Erika Lützner-Lay
Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andere verborgene Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, dass mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde, und das Bedauern,
das inständige Bedauern. Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl e und für das Koffein,
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende
und die paar Minuten dazwischen
inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.
Hans Magnus Enzensberger
aus: Hans Magnus Enzensberger: Kiosk, Frankfurt am Main 1995