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Nachruf auf Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Haken

(im Original in der Zeitschrift Familiendynamik veröffentlicht)

Am 14. August 2024 starb Hermann Haken im Alter von 97 Jahren im Kreise seiner Familie. Er war einer der bedeutendsten Physiker des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, wobei er bahnbrechende Beiträge zur Lasertheorie, Festkörperphysik, Theorie der Ungleichgewichts-Phasenübergänge in unterschiedlichen Medien sowie der Selbstorganisations- und Komplexitätstheorie geleistet hat.

Über die Physik hinaus war Hermann Haken für verschiedene andere Disziplinen von großer Bedeutung, so auch für Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie, die Sozial- und Beratungswissenschaften. Dies gründet sich darauf, dass Prof. Haken die von ihm und seinem Team zunächst am Laser beschriebenen und experimentell untersuchten Prinzipien der Selbstorganisation sehr schnell in ihrer generellen Tragweite erkannte. Ungleichgewichts-Phasenübergänge, das „Versklavungsprinzip“ bei der Entstehung von Ordnern und als Grundlage für die Informationskompression, kritische Instabilitäten, Ordnungs- und Kontrollparameter sowie verschiedene andere Mechanismen von Emergenz und Musterbildung kommen offenbar in unterschiedlichsten Systemen vor, sind „substrat-unabhängig“ und universell. Dies erkannt zu haben, ist meines Erachtens ebenso bedeutsam wie die Entdeckung der Prinzipien selbst. Damit war der Weg frei für die Ausarbeitung der Synergetik, einer allgemeinen und transdisziplinären Theorie und Methodik der Selbstorganisation in komplexen Systemen. Im Sinne von Kuhn könnte man die Synergetik durchaus als „Wissenschaftsparadigma“ bezeichnen, das für viele Disziplinen, die sich mit Fragen der Musterbildung und des Musterwechsels auf unterschiedlichen Zeitskalen, in unterschiedlichen Größenordnungen und mit Bezug auf verschiedene Inhalte beschäftigen, von größter Relevanz ist. Im Sinne des „non-statement view“ nach Sneed und Stegmüller wäre die Synergetik eine Strukturtheorie, deren theoretischer Kern zu erfolgreichen intendierten Anwendungen in verschiedenen Disziplinen „angereichert“ werden konnte.

Für Hermann Haken begann dieser innovative Weg mit Arbeiten zur Festkörperphysik und zur Quantentheorie des Lasers, die er bereits in den 1960er Jahren mit seinen Kollegen Wolfgang Weidlich und Hannes Risken ausgearbeitet hatte (veröffentlicht in dem Buch „Laser Theory“, 1970). Zusammen mit seinem Schüler Robert Graham konnte er dabei den Übergang zum hochkohärenten Laserlicht als Phasenübergang interpretieren. Die mathematische Brillianz dieser Theorie zog sich auch durch viele andere Anwendungen und Ausarbeitungen, was die Synergetik dauerhaft von Konzepten unterschied, die Begriffe wie „Selbstorganisation“ meist nur metaphorisch benutzten. Bald kamen andere Anwendungen hinzu, z.B. in der Strömungstheorie, im Bereich der Musterbildung biologischer Strukturen, in Chemie und Physiologie, in den Motorik- und Bewegungswissenschaften (man denke hier an das berühmte Haken-Kelso-Schöner-Modell der Fingerbewegung), in der Informatik und in den Neurowissenschaften. (Wer sich für diesen Entwicklungsweg der Synergetik interessiert, der sei auf das Buch von B. Kröger (2013) verweisen: Hermann Haken und die Anfangsjahre der Synergetik. Berlin: Logos-Verlag.) Im Bereich der Neurowissenschaften konnte die Synergetik auch durch kongeniale frühere Doktoranden wie Peter Tass und Viktor Jirsa weiterentwickelt werden, da das Gehirn erfolgreich als komplexes nichtlineares Vielteilchensystem interpretiert (d.h. in der Synergetik immer: mathematisch modelliert) und Musterbildung zur Grundlage für ein Verständnis physiologischen, aber auch pathologischen Funktionierens wurde, z.B. von Epilepsie, Parkinson oder Tinnitus. Hier setzen inzwischen weitreichende therapeutische Möglichkeiten der Synergetik an.

Die Synergetik ist nicht nur in verschiedensten Disziplinen anwendbar, sondern hat auch ein disziplinübergreifendes Band (Transdisziplinarität) geschaffen, das Konzepte, Methoden und Begrifflichkeiten für die Entwicklung disziplinübergreifender Problemlösungen anbietet und eine Gegenbewegung zu disziplinärer Separierung darstellt.

Für die Psychologie war die Synergetik in verschiedener Hinsicht von Bedeutung. Zum einen konnte unter dem Einfluss des Kognitionspsychologen und Gestalttheoretikers Michael Stadler ein Bezug zu einer der wichtigsten Wurzeln der Psychologie, der Gestaltpsychologie, hergestellt werden. Zum anderen war die Synergetik breit genug angelegt, dass sie ein schulenübergreifendes, bio-psycho-soziales Verständnis von Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen begründen konnte. Derartige Prozesse können inzwischen mit dem Synergetischen Navigationssystem (SNS) auch in der Praxis erfasst werden, das hochfrequente Selbst- und Fremdeinschätzungen mit einer App ermöglicht und mit den darin verfügbaren Methoden nichtlinearer Zeitreihenanalyse auswertet und visuell darstellt. Das darauf aufbauende integrative und zugleich personalisierte Vorgehen wird als Synergetisches Prozessmanagement bezeichnet. Für mich persönlich war es eine große Freude und Ehre, mit Hermann Haken zusammen das umfangreiche Buch „Synergetik in der Psychologie“ schreiben zu dürfen (Hogrefe Verlag, 1. Aufl. 2006, 2. Aufl. 2010). Viele Kollegen in der Psychologie und benachbarten Wissenschafts- und Anwendungsfeldern wurden von Hermann Haken fachlich und persönlich inspiriert, unter anderem Jürgen Kriz, Wolfgang Tschacher, Ewald Brunner und ich selbst.

Nicht nur die Theorien und die Synergetik als Gesamtentwurf sind beeindruckend, auch die Lebensleistung von Hermann Haken ist es. Er wurde am 12. Juli 2027 in Leipzig geboren und studierte Mathematik (Promotion 1951) und Physik an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg und an der Universität Erlangen. Nach der Habilitation an der Universität Erlangen folgten Forschungsaufenthalte in Großbritannien und an den Bell Laboratories (USA), in denen er die Entwicklung der Lasertechnologie sozusagen in erster Reihe miterlebte. 1961 wurde er auf den Lehrstuhl für Theoretische Physik an die Technische Hochschule, später Universität Stuttgart berufen, wo er bis zu seiner Emiritierung 1995 forschte und lehrte. Neben seinen Leistungen in der Forschung war Prof. Haken auch als Lehrender und Vortragender geschätzt und beliebt. Mögliche Abberufungen (z.B. einen Ruf nach München) nahm er nicht an – unter anderem durch Interventionen seiner Studenten, bei denen er sehr beliebt war – und blieb seiner Universität Stuttgart bis zur Emiritierung treu. Dort (am Pfaffenwaldring) konnte ich ihn mehrfach besuchen und ebenso inspirierende wie motivierende Gespräche mit ihm führen. Prof. Haken betreute zahlreiche Doktoranden, von denen viele heute selbst berühmte Professoren und Institutsdirektoren sind.

Hervorzuheben ist auch die Autoren-, Herausgeber- und Organisationsleistung von Prof. Haken. Er verfasste zahlreiche Lehrbücher, die zu Standardwerken der Physik wurden (z.B. Haken / Wolf: Lehrbuch Atom- und Quantenphysik. Berlin: Springer, mehrere Auflagen) und in verschiedene Sprachen übersetzt sind. Neben der westlichen Welt wurde die Synergetik übrigens auch im Osten mit viel Interesse aufgenommen; mehrere Bücher sind z.B. ins Japanische und Russische übersetzt. Insgesamt liegen neben zahllosen Beiträgen in deutschen und internationalen Fachzeitschriften mehr als 20 Bücher und Monographien vor, u.a. zu Atom- und Molekülphysik, Gehirndynamik, Informationstheorie und natürlich zur Synergetik, didaktisch gut aufbereitet und mathematisch exzellent. Auch verfasste er mehrere populärwissenschaftliche Bücher, z.B. die „Erfolgsheimnisse der Natur“ oder die „Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung“, zusammen mit seiner Tochter Maria Haken-Krell. Ebenso bekannt wie beeindruckend ist die von ihm 1977 gegründete „Springer Series in Synergetics“ mit über 140 Bänden (Monographien, Herausgeberbände und Tagungsbände), die die disziplinübergreifende Breite der Synergetik demonstrieren. Bereits 1990 gab es einen Band zu „Synergetics of Cognition“ (Haken / Stadler), 1992 einen zu „Synergetics in Clinical Psychology“ (Tschacher / Schiepek / Brunner).

Auch persönlicher Austausch und wissenschaftliche Kooperationen waren charakteristisch für seine Arbeitsweise. Unter anderem war er zu Forschungs- und Vortragsaufenthalten in Kyoto, Paris, Strasbourg, Italien und den USA und hatte umgekehrt immer wieder renommierte Wissenschaftler an seinem Institut zu Gast. Auch organisierte er zahlreiche Tagungen, z.B. die legendäre Tagungsreihe auf Schloss Elmau, und nahm als „spiritus rektor“ an vielen Tagungen und Konferenzen teil, z.B. an den an der Universität Bamberg gegründeten Herbstakademien, später Sommerakademien im Kloster Seeon.

Die Ehrungen von Prof. Haken sind nahezu überabzählbar. Er wurde mit Ehrendoktorwürden der Universitäten Essen, Regensburg, Madrid, der TU München und der Florida Atlantic University ausgezeichnet. Unter anderem erhielt er den Max-Born-Preis (1976) und die Max-Planck-Medaille (1990) der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, die Albert A. Michelson Medaille des Franklin-Instituts Philadelphia (1981), den Honda-Preis für physikalische Grundlagenforschung der Honda-Stiftung Tokyo (1992), die Lorenz Oken-Medaille der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1994) sowie die Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Er war Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien, unter anderem der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina), der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, oder der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, sowie seit 1984 Mitglied des Ordens „Pour le Mérite“, dem nur ca. 80 Wissenschaftler und Küstler aus Deutschland und der Welt angehören und eine der höchsten Auszeichnungen der Bundesrepublik Deutschland darstellt. Auch war er Träger des Bundesverdienstkreuzes mit Stern.

Wir verlieren mit Hermann Haken einen großen Wissenschaftler, Lehrer und Mentor, und viele von uns auch einen wunderbaren Kollegen und Freund. Mehr als der Verlust bedeutet aber, was wir mit ihm und durch ihn gewonnen haben – seine Perspektiven, Inspiration und faszinierenden Ideen werden weiterwirken und die kollegiale Kooperation in seinem Sinne noch sehr lange tragen.

 

Günter Schiepek